S. Nagel: Ausländer in Mexiko

Cover
Title
Ausländer in Mexiko. Die "Kolonien" der deutschen und US-amerikanischen Einwanderer in der mexikanischen Hauptstadt 1890-1942


Author(s)
Nagel, Silke
Series
Berliner Lateinamerika-Forschungen 17
Published
Extent
428 S.
Price
€ 66,00
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Thomas Cieslik, Abteilung für Sozialstudien und Internationale Beziehungen, Tecnológico de Monterrey, Campus Estado de México

Wenn man die Nachnamen beispielsweise mexikanischer Politiker liest, entdeckt man sofort deren familiäre Wurzeln, z.B. beim designierten Finanzminister Augustín Carstens, dem noch amtierenden Gesundheitsminister Julio Frenk oder Lokalpolitikern in Mexiko-Stadt wie Federico Döring, Arne aus den Ruthen oder der ehemaligen Umweltministerin Claudia Sheinbaum. Viele sind deutscher Abstammung. Ihre Vorfahren kamen einst als Kaufleute oder Unternehmer nach Mexiko. Anders als die USA, Brasilien oder Argentinien war Mexiko nie ein klassisches Einwanderungsland gewesen. Dennoch bildeten sich im 19. Jahrhundert ausländische Kolonien in Mexiko. Der Begriff wird sowohl von Mexikanern als auch von Einwandern teilweise heutzutage noch verwendet.

Erstmals untersucht eine deutsche Historikerin umfassend die Immigration von Deutschen und US-Amerikanern gleichermassen in Mexiko. Silke Nagels nun vorliegende Dissertation leistet einen wichtigen Beitrag zur Aufklärung der Rolle der beiden Volksgruppen in Mexiko-Stadt und schliesst damit eine bedeutende Forschungslücke gerade im Hinblick auf die Nordamerikaner. Obwohl diese später als die Deutschen nach Mexiko einwanderten, entwickelten sie sich zur wichtigsten und grössten Ausländergruppe. Nagel wählt den Zeitraum ihrer Forschungen sehr bewusst von 1890 bis 1942. In der wirtschaftlichen Blüte des Porfiriats kamen die Investoren und Einwanderer, nach den Wirren der mexikanischen Revolution setzte sich eine nationalistische Ausländerpolitik durch, die die Immigration einschränkte und mit dem Kriegseintritt Mexikos gegen Deutschland die bis dahin exzellenten Beziehungen beendete und stattdessen in den langfristigen Aufbau wirtschaftlicher Beziehungen mit den USA mündete.

Das Buch gliedert sich in drei Kapiteln: Mexikos Beziehungen zu den USA und zu Deutschland, das Problem der Einwanderung in Mexiko und die Kolonien in Mexiko-Stadt. Das erste Kapitel glänzt durch akribische Quellenarbeit und zeichnet sorgfältig die wechselseitigen zwischenstaatlichen Beziehungen nach. Während Mexiko und die USA territoriale Auseinandersetzungen hatten, standen für Preussen, die Hansestädte und später Deutschland die Handelsinteressen im Vordergrund. Nagel weist nach, dass es in strategischen Bereichen der Industrialisierung Mexikos wie dem Eisenbahnbau und dem Petroleum keine Handelsrivalitäten zwischen Deutschland und den USA im 19. Jahrhundert gab. Im Gegenteil, es gab sogar teilweise eine Zusammenarbeit im Bergbau und Bankenwesen durch die zunehmenden internationalen Verflechtungen. Grundsätzlich wollte Deutschland einen Konflikt mit den USA vermeiden, weil es die Vereinigten Staaten als Hegemonialmacht Mexikos akzeptierte, schlussfolgert Nagel. Natürlich darf in der Analyse das berühmte Zimmermann-Telegramm nicht fehlen, dass Mexiko zum Kriegseintritt gegen die USA bewegen sollte, um diesen gegen Deutschland zu verhindern. Die Autorin kommt zum Schluss, dass Präsident Carranza trotz des zum Erliegen kommenden Handels mit Deutschland die Beziehungen aufrechterhielt, um die Souveränität Mexikos zu demonstrieren. Im Zweiten Weltkrieg erklärte Mexiko den Krieg mit Deutschland, nachdem zwei mexikanische Tankschiffe im Mai 1942 torpediert wurden. Leider erklärt Nagel nur oberflächlich die Bedrohungsszenarien durch die USA. Die Frage zu beantworten, ob ein Einmarsch der USA gegen Mexiko wahrscheinlich gewesen wäre, vor allem nach der Verstaatlichung der Erdölindustrie unter Präsident Cárdenas, hätte das Kapitel bereichert.

Das zweite Kapitel analysiert die Einwanderungsgesetzgebung und –politik Mexikos. Obwohl die Einwanderung im Laufe des 20. Jahrhunderts immer stärker beschränkt wurde, gestattete die mexikanische Regierung in den 30er Jahren die Aufnahme spanischer Flüchtlinge in grossem Masse trotz innenpolitischer Proteste. Jüdische Flüchtlinge hatten es hingegen schwerer, oft wurden die Visa nicht anerkannt oder sie wurden wieder nach Europa abgeschoben. Leider kommt dieser interessante Abschnitt zu kurz in den Darstellungen Nagels, reflektiert dieser doch die Widersprüchlichkeiten der mexikanischen Einwanderungspolitik.

Das wichtigste Kapitel befasst sich mit den Kolonien in Mexiko-Stadt. Die unterschiedlichen Entwicklungen der Kolonien, so analysiert Nagel, lassen sich aus ihrem Selbstverständnis und ihrem Verhältnis zu den Herkunftsstaaten erklären. „Anders als die US-amerikanische Kolonie versuchte die deutsche trotz wachsender politischer Gegensätze die gesamte deutsche Bevölkerung zu vereinigen“, resümiert Nagel. Das war aber schon ein Widerspruch in sich, weil die Kinder aus der Einwanderergeneration schon zu über 40 Prozent aus mexikanisch-deutschen Familien stammten (S. 361). Die Rassenideologie fruchtete daher nicht bei allen Deutschen, im Gegenteil, die Einbügerungen unter der Regierung Cárdenas nahmen bei Deutschen zu, während die US-Amerikaner an ihrer Staatsangehörigkeit festhielten. Nagel vermutet, dass die restriktive Ausländerpolitik für US-Bürger wegen des Machtgefälles zwischen beiden Staaten nicht angewendet wurde.

Interessant ist natürlich, dass in Mexiko nicht nur Volksdeutsche eine totalitäre Ordnung aufzubauen versuchten, sondern das Land auch Zufluchtsort für Künstler, Schriftsteller, und deutsche wie auch wenige jüdische Exilanten wurde: „Für die deutschen Exilanten war das Aufnahmeland ein temporäres Asyl, das auch als vorübergehend erlebt wurde, als eine Phase, die in dem Augenblick überwunden sein würde, in dem die politischen Gegebenheiten, die sie erzwungen hatten, sich ändern und die Heimkehr ermöglichen würden.“ 1 Leider bleibt auch dieses Kapitel deutsch-mexikanischer Beziehungen unterbewertet.

Dennoch lädt das mit zahlreichen hochinteressanten Quellen, Tabellen und Namenslisten gespickte Buch zu weiteren Nachforschungen vor allem von Familienbiographien ein. Der historische Ansatz zur Einwanderung in Mexiko bietet auch eine Reflektion zur aktuellen Migrationsdebatte in Mexiko. Über 600.000 Mexikaner versuchen jedes Jahr in die USA illegal auszuwandern. Für viele Mittelamerikaner ist Mexiko mittlerweile zum Transitland geworden, und das Entstehen mexikanischer Kolonien nicht nur im Süden der USA, sondern auch in Städten und Regionen wie Chicago oder North Carolina gibt interessante Anhaltspunkte für ein weitreichendes Studium der Migrationsgeschichte auf dem amerikanischen Kontinent.

Das flott geschriebene Buch, das immer wieder mit einigen historischen Details und Anekdotenwissen glänzt, beschreibt eindringlich und nah das Leben in den Kolonien. Obwohl das Buch eine hervorragende geschichtliche Aufarbeitung leistet, stände es ihm gut, in einem kurzen Epilog die Beziehungen zu den USA und Deutschland nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zu skizzieren, und dabei auf die Entwicklung der Kolonien und ihrer Bedeutung heutzutage einzugehen.

Eine spanische Übersetzung dieser Dissertation würde mit Sicherheit für Aufmerksamkeit nicht nur unter Historikern, sondern auch für eine neue politische Debatte über Einwanderung und Ausländer in Mexiko sorgen – sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart. Denn in einer Umfrage des Meinungsforschungsinstitut IPSOS-BIMSA sagten 51 Prozent der befragten Mexikaner, dass die Einwanderung von Mittelamerikanern reduziert werden müsse. In den USA hätten nur 39 Prozent diese Meinung über die Immigration der Lateinamerikaner. 2 Die Schlussfolgerung Nagels, dass der Zusammenhalt untereinander viel stärker von Gemeinsamkeiten in der Erziehung und vor allem der Schichtzugehörigkeit in den US-amerikanischen Kolonien abhing, lässt sich auch heutzutage noch ohne weiteres für alle Ausländerkolonien unterschreiben: „Wenn sich hier Überschneidungen ergaben, konnten Mexikaner und andere Ausländer in die Kolonie integriert werden, „arme“ US-Amerikaner fanden jedoch keinen Zugang“ (S. 357).

Anmerkungen:
1 Bokser Liwerant, Judit, Über Exil, Migrationen und kulturelle Begegnungen, in: Hanffstengel, Renata von; Tercero, Cecilia; Wehner Franco, Silke, Mexiko, das wohltemperierte Exil, Mexiko-Stadt, UNAM, Instituto de Investigaciones Interculturales Germano-Mexicanas, Goethe-Institut 1995, S.25-38, hier S. 31.
2 Buendía, Jorge, Fenómeno compartido, El Universal, 23. Oktober, S. 10.

Editors Information
Published on
12.01.2007
Contributor
Edited by
Cooperation
Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
Classification
Regional Classification
Book Services
Contents and Reviews
Availability
Additional Informations
Language of publication
Country
Language of review